Die Kohlkönigin

Sie ist stolz und in sich ruhend, einem anderen Raum- und Zeitgefühl folgend nimmt sie uns Betrachter*innen nicht wahr und lebt in ihrer eigenen Welt: Marilies Seylers Schwarz-Weiß- Fotografien zeigen eine junge, selbstbewusste Frau. Die Nahaufnahmen fokussieren auf ihr Antlitz, frontal oder im Profil, die Augen offen oder geschlossen. Als überraschendes Accessoire taucht ein Kohlblatt vor ihrem Gesicht auf oder ist kunstvoll auf der Stirn arrangiert. Schlicht inszeniert und doch überaus wirkungsvoll gelingt es Seyler, dem dokumentarischen Charakter der Fotografie zu entkommen und in ihre Bilder etwas Märchen- und Rätselhaftes zu legen, das sich einer eindeutigen Interpretation entzieht. Die Kohlkönigin (1992) scheint eine eher unnahbare Frau zu sein, das Gemüseblatt ist Schutz und Schmuck zugleich. Wie eine kostbare Krone trägt sie es auf der Stirn, wie eine abschirmende Maske vor dem Gesicht. Das Frausein in Vergangenheit und Gegenwart und der weibliche Körper als Ort und Symbol des Schöpferischen sind durchgängige Themen im Werk der Künstlerin. Ihre Frauen sind stark und selbstbewusst, aber auch verletzlich und den Blicken oder sogar den Tritten der Betrachter*innen schonungslos ausgeliefert (wie etwa bei den Trampelbildern). Verletzlichkeit spielt in Seylers Arbeiten überhaupt eine große Rolle, Verletzungen, die wir den Menschen und der Gesellschaft zuführen – oder aber auch der Natur. Ein weiteres leidenschaftliches Schaffensfeld der Künstlerin ist nämlich die Darstellung von Natur als vielschichtiges Sinnbild für die Verwundbarkeit unserer Welt. Dabei arbeitet sie oft mit organischen Materialien, etwa mit Insekten oder Blättern. Vielleicht verbinden sich diese beiden Themen auf subtile Weise in ihrer Kohlkönigin: der Mensch wird begriffen als Teil der Natur, als Teil des Ökosystems. Ein Plädoyer für die Kostbarkeit der (weiblichen) Schöpfung.

Günther Oberhollenzer

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Trampelbilder